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Titel
Warhaftige Historia. Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555) - História de duas viagens ao Brasil. Kritische Ausgabe: Franz Obermeier; Übertragung ins heutige Deutsch: Joachim Tiemann; Tradução ao português: Guiomar Carvalho Franco


Autor(en)
Staden, Hans
Reihe
Fontes Americanae 1
Erschienen
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Pietschmann, Historisches Seminar, Universität Hamburg

In der Fülle überlieferter zeitgenössischer Prosatexte und teils sogar gereimter Überlieferungen aus dem thematischen Umfeld der iberischen Expansion finden sich zahlreiche Editionen, die sich als kritische Ausgaben bezeichnen. Davon können aber nur die Wenigsten für sich in Anspruch nehmen, in der deutschen Tradition historisch-philologisch-kritischer Editionen zu stehen. Meist handelt es sich um Ausgaben mit mehr oder weniger ausführlichen Einleitungen der Herausgeber, die die Entstehungsgeschichte nachzeichnen. Oft rekonstruieren sie die handschriftliche(n) Überlieferung(en) noch nicht einmal. Selbst dann, wenn die Texteditionen mit Fußnoten versehen sind, beschränken sie sich überwiegend auf Sacherklärungen. Es verwundert daher auch nicht, dass diese Überlieferungen unterschiedslos der Gattung der Chronistik zugeschrieben werden, gleichgültig ob sie in lateinisch oder volkssprachlich verfasst wurden, gleichgültig auch, ob sie von Zeitzeugen oder von dem Geschehen fernen, sich ihrerseits auf Quellen stützenden Autoren stammen. Welcher Historiker erinnert sich schon daran, dass die berühmte „Historia verdadera…“ des Bernal Díaz del Castillo von der Eroberung Mexikos als ohne Überschrift überliefertes Manuskript ihren Namen erst in einem späteren Jahrhundert erhielt. Dagegen ist das hier vorzustellende Werk tatsächlich bereits 1557 unter dem Titel „Warhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschaft der Wilden/Nacketen/Grimmigen MenschfresserLeuthen/in der Newenwelt America gelegen/vor und nach Christi geburt im Land zu Hessen unbekant/bis uff dieses nechst vergangene jar/Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfahrung erkant/und yetzo durch den truck an tag gibt….“ erschienen. Ebenso wie viele ähnliche spanische Titel lässt auch diese deutsche Überschrift erkennen, dass ihre Edition philologischer und historischer Kritik dringend bedarf, ja, dass die Gattung insgesamt genauer historiografiegeschichtlich erforscht und eingeordnet werden muss. Mit entsprechender Erwartung nimmt man die vorliegende Edition zur Hand.

Das im Verlag des Kieler Romanisten und Guaraní-Forschers Thun erschienene, gemeinsam mit dem brasilianischen Instituto Martius-Staden publizierte Werk wurde im Rahmen einer im März 2007 im hessischen Wolfhagen abgehaltenen internationalen Tagung vorgestellt. Veranstaltet hatte sie das dortige Regionalmuseum, das auch eine Ausstellung über Staden organisierte, die noch in Korbach und danach in Brasilien gezeigt werden soll.1 Der äußere Anlass war das 450. Jubiläum des Erscheinens von Stadens Buch in Marburg, über dessen Verfasser wir ansonsten nur wenig gesichert wissen. Überliefert sind der Geburtsort Homburg an der Efze, die Lebensspanne von circa 1520 bis nach 1558, seine Funktion als Büchsenschütze während zweier Brasilienreisen zwischen 1548 und 1555, von denen er eine in portugiesischen und eine in spanischen Diensten antrat, die Aufenthaltsorte Wolfhagen und Korbach nach seinem Brasilienabenteuer sowie der ebenfalls nach Rückkehr erlernte Beruf eines Salpetersieders. Das Buch verdankt seine Entstehung wesentlich Stadens Beziehung zu dem Marburger Medizin- und Mathematikprofessor Johannes Dryander, der offenbar aus dem gleichen Geburtsort wie Stadens Vater, nämlich Wetter, stammte. Eine Pfändungsandrohung aus dem Jahre 1558 gilt als letzter dokumentarischer Beleg von Stadens Leben.

Der Herausgeber der Edition, Franz Obermeier, ist Fachreferent an der Kieler Universitätsbibliothek und durch zahlreiche Publikationen zu Staden und den frühen französischen Brasilienberichten ausgewiesen. Obermeier gibt die vorgenannten Informationen zu Stadens Biografie bereits auf den ersten drei seiner insgesamt 31 Seiten umfassenden Einleitung. Danach wendet er sich anderen Brasilienwerken der Epoche, Fragen nach Charakter und Struktur des Werkes sowie der Illustrationen zu. Ergänzt wird diese Einleitung durch eine 34 Seiten umfassende Bibliographie. Es folgt unpaginiert der reich bebilderte Faksimilenachdruck von Stadens Werk. Es ist in zwei Widmungsschreiben (je eines von Staden und von Dryander an Landgraf Philipp von Hessen) und zwei Bücher gegliedert. Das Erste schildert in chronologischer Folge Stadens Erlebnisse, während das Zweite den Sitten und Gewohnheiten der Tupinambá gewidmet ist, die den Verfasser mehr als ein halbes Jahr gefangen hielten. Auf den Seiten 179 bis 212 liefert der Bearbeiter knappe Kommentare zu den einzelnen Seiten bzw. Abschnitten von Stadens Text gefolgt von einer Auflistung der in den Kommentaren zitierten Quellentexte. Eine Liste der genannten Stammesbezeichnungen, Indizes von Personennamen und geographischen Bezeichnungen, Erläuterungen von Tupiwörtern und Verzeichnisse von Namen aus Fauna und Flora einmal in Übersetzung aus dem Tupi und sodann mit deren modernen taxonomischen Bezeichnungen sollen die Erschließung des Textes erleichtern. Auf den Seiten 229 bis 288 findet sich dann die von Joachim Tiemann besorgte Übersetzung des Werkes in modernes Deutsch und anschließend die Übersetzung von Obermeiers Einleitung und Stadens Werk ins Portugiesische, besorgt von Guiomar Carvalho Franco und durchgesehen von Augusto Rodrigues. Eine Zeittafel zu Stadens Leben und Werk, die Danksagung an unterstützende Personen und Institutionen sowie das zweisprachige Inhaltsverzeichnis schließen den Band ab.

Wie die knappe Beschreibung der Edition bereits verdeutlicht, konzentrieren sich die editorischen Teile auf die buchgeschichtliche Bedeutung von Stadens Text und Illustrationen, seine Wirkung und Verbreitung, seine Verortung in der frühen Überlieferung zu Brasilien, vor allem im Vergleich zu Thevet, Léry, Abbeville und anderen und auf seine ethnographische Bedeutung. Das Fehlen einer die Kriterien der Bearbeitung und Kommentierung verdeutlichenden Einleitung erweckt bei einem der Thematik ferner stehenden Benutzer der Edition den Eindruck, dass es sich um ein Buch von Spezialisten für Spezialisten handelt, ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass der Bearbeiter in seiner spartanischen Einleitung den Leser allzu oft auf diverse seiner 49 eigenen, unter „Forschungsliteratur“ aufgelisteten Titel verweist. Unter dieser „Forschungsliteratur“ fehlen zentrale Titel (wie Jürgen Pohle, Deutschland und die überseeische Expansion Portugals im 15. und 16. Jahrhundert. Münster 2000), die hätten erklären können, wie ein hessischer Büchsenschütze nach Brasilien gelangte. Auch wenn die Fragen des Historikers an eine solche Edition unbeantwortet bleiben und das Werk nicht den Anforderungen an eine philologisch-historisch-kritische Edition, wie sie einleitend angerissen wurden, entspricht, bildet es doch einen unverzichtbaren Baustein zu einer solchen, noch zu leistenden Edition. Von dieser ist unter anderem der Versuch zu verlangen, herauszufinden, inwieweit der Text auf Staden selbst oder überwiegend auf Dryander zurückgeht, von dem mehrere Veröffentlichungen bekannt sind. Vieles an Stadens Werk erinnert mehr an die Vertrautheit des Universitätslehrers mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Debatten und Konstellationen als an einen abenteuernden Büchsenschützen, vor allem wenn man an zeitgenössische Korrespondenz von gebildeteren Schreibern, wie etwa Kaufleuten, denkt. Woher mag Staden den Namen „America“ gehabt haben? Sicher nicht von der Iberischen Halbinsel oder aus Brasilien, wo er zu der Zeit jedenfalls nicht in Gebrauch war. Man wird der Edition freilich zugute halten müssen, dass zu viel auf zu knappem Raum beabsichtigt war: Ein solches Werk in einem Band für zwei große Märkte, den brasilianischen und den deutschen, gleichzeitig erschließen zu wollen, ist kein realistisches Unterfangen. Vielleicht helfen da die Akten der Tagung von Wolfhagen im letzten März weiter.

Anmerkung:
1 Vgl. zu Tagung und Ausstellung: Tópicos. Deutsch-brasilianische Gesellschaft e.V. – Lateinamerika-Zentrum e.V. 46/2 (2007), S. 30-31. Obermeier erwähnt in seiner Edition, S. XXX, ohne nähere Angaben eine Staden-Sammlung des Ehepaars Bezzenberger und eine Hans-Staden-Stiftung Wolfhagen, die das Andenken an Staden dort lebendig halten.

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